Glosse

Der Musenkuss zur rechten Zeit

von Werner Augustin

Des Öfteren wird man gefragt, woher man denn „immer“ die Ideen für all die Themen beziehe. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wahrscheinlich liegt es schlicht daran, dass man von der Muse geküsst wurde. Nur von welcher? Von den netten Damen gibt’s laut Hesiod, selbiger wirkte im sechsten Jahrhundert vor Christus, deren neune. Und wie es sich für einen modernen Betrieb gehört, teilte man die Fachgebiete unter sich auf. Die mit dem Verfasser am wenigsten verbandelten Maiden haben beispielsweise Abschlüsse in den Disziplinen Astronomie, Liebesdichtung, Tanz, Gesang und Flötenspiel. Eigentlich küssen den Verfasser nur Melpomene, die Muse der Tragödie (Wohnungseigentum, Steuerrecht) und Thalia, die Muse der Komödie (Mietrecht). Elfengleich umschweben sie das leere Haupt eines bleistiftkauenden Autors, hierbei nicht müde werdend, ihm zärtlich Stichworte zuzuwispern.

So fängt der Kopfkinoprojektor an zu rattern und wirft die tollsten Bilder und Szenen auf die zuvor noch weiße Wand des Geistes.

Nach Übertragung seiner Hieroglyphen in ein maschinenlesbares Format beginnt der Schreiber im fahlen Schein des Notebookrechtecks die Wörter zu zählen. So noch Platz sein sollte, fügt er je nach Thema noch ein bis zwei Kalauer ein und versucht am Ende, wieder am Anfang anzukommen. Es schließe sich der Kreis!

Musen sind ausgesprochen angenehme Zeitgenossinnen. Flattern denkbar leise herbei und sind, wenn’s denn genug sei, ohne großes Gemecker wieder entschwunden. Räumlich sind sie sehr flexibel, man findet sie unter der Dusche, im Wald und -kaum zu glauben- auch im Büro. Gerade hat Thalia dem Verfasser zugeraunt, er solle mal eine vollends fachfreie Glosse schreiben! Keinen Paragraphen zitieren, kein Wort verlieren über den BGH, Mietpreisbremsen und ähnliche Fabeln, sich nicht empören über auf das Nachbargrundstück fallendes Herbstlaub, kurzum Abstand nehmen von Sarkasmus und Satire, Hoffart, Spott und Hohn.

Einfach nur schreiben um des Schreibens Willen. Um schließlich die Wörter zu zählen.

Dreihundertzehn.