Glosse

Altbauphobie – ein neuzeitlicher Mieterdefekt?

von Werner Augustin

Verfolgt man die einschlägige Fachpresse rund um unsere Wohnungswirtschaft, so kristallisieren sich, ein wenig überspitzt formuliert, einige Hauptwesenszüge der Spezies „Mieter“ heraus. Er oder sie ist in den Flausch allumfassender Rechte, Ansprüche und Befugnisse gemummelt und wähnt sich -dank Rundum-Sorglos-Rechtsschutz-Pakets- juristisch unkaputtbar. Dank sozialer Medien ist der gemeine Mieter, die gemeine Mieterin, umfassend geschult, in allen Lebensbelangen voller Expertise und in Sachen „allgemeiner Verweigerung“ schier unschlagbar.

Besonders pikant ist ein Fall, mit dem der Verfasser während einer genossenschaftlichen Prüfung in Süddeutschland in Berührung kam. Mieterin X. sei ein- und gleich wieder ausgezogen. Wieso das denn? Begründet, so die verantwortliche Auskunft, habe dies die Unstete damit, in einem Altbau nicht leben zu können. Und so bildete sich vor dem geistigen Auge des Verfassers das trendige Krankheitsbild einer „Altbauphobie“, sich hierbei harmonisch einreihend in den bewährten Ängstekatalog, also Horror vor Spinnen, Schlangen, Mäusen, Prüfern und so weiter. Kopfkino, die Erste:

Sie betritt das Treppenhaus. Steinstufen.

Ihre Hände beginnen zu zittern. Ein sich aus der Wand beulender Stromzähler grinst sie zweiadrig an. Irgendwo prangt ein vergilbtes, in Sütterlinschrift verfasstes Traktat mit „Anweisungen zu Ruhe! Ordnung! Sauberkeit! – gez. die Hausherren“.

Kurzatmig tastet sich die Unstete von Stockwerk zu Stockwerk, dabei von unzähligen, durch schmale Türschlitze stechenden Augen verfolgt. Übelkeit macht sich breit, ihre Hände fühlen sich an wie triefende Badeschwämme. „Ich habe den Handlauf – gerade – geputzzzzzt“, zischt eine sich aus dem Halbdunkel schälende Reinemachfrau in kariertem Kittel. Empört wackelt der graue Dutt. Mit der Schuhpike bringt sie den Blecheimer zum Scheppern, hierbei diabolisch grienend der Wankenden einen dreckigen Lappen entgegenstreckend.

„Nein, bitte nicht“, haucht diese und robbt, nunmehr auf allen Vieren, noch eine gute Stunde durch das wie ein Spiralnebel über ihr klaffende Treppenhaus. Bis sie sich endlich an der beigefarben lackierten Tür mit angenageltem Namensschild hochrappelt. Unter Knarzen und Wippen des Holzbalkenbodens schleppt sie sich in den finsteren, schlauchartigen Flur. „Rruhää!“, bellt es aus der unteren Wohnung. „Foch“, macht der Gasboiler in der Küche. Wie ein faltiger Hals steckt sein dickes, silbriges Rohr in der mit Löchern und Schlieren übersäten Wand. Von Sinnen torkelt die Beklagenswerte ins Bad. Seifige Brühe kriecht über dunkelbraune Fliesen. Von der hohen Decke baumelt ein Fliegenfänger. Und ein grauer Draht mit Birne.

Fahles, aus ihrem Kolben flackerndes Licht taucht die Zinkwanne in dumpfes Grau. Durch die Ritzen des wurmstichigen Fensters heult rußgeschwängerte Abendluft.

Schreiend ergreift Frau X. die Flucht.

Altbauphobie! – demnächst auch bei Ihrem Neurosenhändler…