Glosse

Bilanzgeflüster

von Werner Augustin

Der berühmte Mönch Luca Pacioli hat die doppelte Buchführung wohl nicht erfunden.
Auch nicht der weniger berühmte Mönch Angelo Senisio. Vielleicht der Händler Benedetto Cotrugli, der eigentlich ganz anders hieß? Oder am Ende doch wieder mal die Alten Chinesen?

Eine Bilanz sollte es halten, wie die Sonne. Immer aufgehen. Und wenn nicht?
Der Verfasser erinnert sich noch zu gut an anrührende Schluchz-Szenen im Schulfach „Wirtschaftslehre“, wenn sich gegen Ende der Klassenarbeit ein irreparables Auseinanderklaffen der beiden Bilanzhälften abzeichnete. Anklagend starrten die Geschlagenen mit starren Zügen an die Klassenzimmerdecke. Regungslos; versteinert.

Der gähnende Schlund der Hölle tat sich auf.

Heute ist alles besser, denn wir haben ja Computer. Sollte man meinen. Können Sie sich noch an die Euro-Umstellung erinnern? Ja, die D-Mark-Schlussbilanz stand wie der Fels von Gibraltar. Aber dann… die Euro-Eröffnungsbilanz. Wie damals bei der Klassenarbeit! Links unten stand gix, rechts unten gax. Aber wie so oft, half auch hier die „Fünf-Schritte-Methode“:

  1. Schritt: kollektiver Weinkrampf
  2. Schritt: Anruf bei der IT-Betreuung, welche mit sengenden Reifen anrückte
  3. Schritt: man drehte man sich dicke Ohrenstöpsel rein
  4. Schritt: man hielt sich regungslos die Hände vor die Augen
  5. Schritt: man zählte laut bis HunderttausendUnd… BINGO! Alles war plötzlich gut. Wegen irgendwelchen „Rundungen“ sei das Ding aus den Fugen geraten. Die EDV-Betreuer hatten „ins System gehen müssen“. (Und wieder die Ohrenstöpsel rein!)

So eine Bilanz ist aber wirklich was Dolles! Links seilen sich die Vermögensgegenstände ab, die unstofflichen hängen ganz oben, gefolgt von den eher wuchtigen bis runter zu den „schnell verflüssigbaren“. Ganz unten finden sich dann noch irgendwelche zeitversetzten Aufwendungen welche gar nichts wert sind, aber schön aussehen. So knapp über dem Strich. „Abschreckungsposten“ nennt man die oder so ähnlich. Rechts oben prangt (wenn wir Glück haben) ein Eigenkapital. Tatsächlich gibt’s immer noch Leute, die meinen, dass man davon runterbeißen kann! Aber das ist nur ein Traum. Eine virtuelle Welt. Ein Metaversum.
Fragen wir doch mal bei der Bank nach, ob sie uns mal schnell die Anderen Gewinnrücklagen abkaufen würde. Von wegen! Die Wahrheit ist, dass eine „Bauerneuerungsrücklage“ der Bauerneuerung ungefähr so dient, wie ein Zitronenfalter die Zitrone faltet.

Im Eigenkapital steckt dann noch (wenn wir Glück haben) ein „Jahresüberschuss“. Der kommt wieder aus einem anderen Cyberspace, da geht’s gar nicht mehr um wuchtiges oder flüssiges Vermögen oder Schulden, sondern um irgendwelche „Schwingungen“, also Zeiträumliches. Wenn sich das Ganze am Jahresende ausgeschwungen hat, werden die Zeitstrahlen zusammengelegt. Der Längere von beiden ragt hervor und das Hervorragende kommt dann ins Eigenkapital. Oder macht’s halt kleiner. Blöd, dann. Ein Stockwerk tiefer hausen besagte Schulden. Die sind gar nichts wert, eher umgedreht, es sei denn, man verkauft sie als Finanzprodukt. Oder so. Ganz unten rechts kommen manchmal noch „vorausempfangene Erträge“. Passive Abschreckungsposten halt. Sie sehen, es spielt alles ineinander. Fließt.

Falls sie noch Fragen zum Thema haben, wenden Sie sich bitte nicht an den Verfasser.